Timm Starl
Innensichten
Zur Geschichte eines Genres und zu den Aufnahmen von Hans Wetzelsdorfer
Die Fotografie von Büroräumen kennt keine Tradition. Einzig wenn sich der Unternehmer am Schreibtisch ablichten ließ, gerieten Teile seiner Arbeitsstätte ins Bild. Die ersten Aufnahmen dieser Art entstanden im ausgehenden 19. Jahrhundert. Dass der Tätigkeitsbereich von Angestellten nicht fotografiert worden ist, liegt zunächst daran, dass in Ämtern und Betrieben das Fotografieren verboten war, wenn es der Chef nicht angeordnet hatte. Dieser war aber an Bildern des Kontors nicht interessiert, seien es solche mit oder ohne dem darin arbeitenden Personal. Wenn ein Fotograf beauftragt wurde, so sollten Aufnahmen gemacht werden, auf denen die Größe und Leistungsfähigkeit der Firma zu sehen ist, also beispielsweise das Hauptgebäude, die Maschinenhalle oder die attraktivsten Produkte.
Doch auch der Angestellte oder Beamte, der über eine Kamera verfügte - Fotografieren war lange Zeit ein Privileg der Männer -, knipste nicht dort, wo er beruflich zu tun hatte. Selbst wenn er im Geheimen den Apparat mit ins Büro nahm oder später, nachdem die Vorschriften etwas lockerer gehandhabt wurden, widmete er seine Aufmerksamkeit mehr den Kollegen und Kolleginnen, einer Betriebs- oder Abteilungsfeier und gewöhnlich nicht dem Raum, an dem er sich werktags aufhielt. Denn dort musste er sich bestimmten Regeln unterwerfen, erhielt Aufträge von einem Vorgesetzten und hatte eine fremd bestimmte Arbeit auszuführen. Man könnte sagen, im Büro ist der Mensch nur zum Teil er selbst, wogegen er in der Freizeit tun und lassen kann, was er will, weshalb er auch während dieser Stunden fotografiert und jene Momente festhält, die für erinnerungswürdig gehalten werden.
Professionelle Lichtbildner, die sich mit Betriebs- und Berufsdarstellungen befassten, fotografierten ebenfalls meist nicht in den Büroräumen. Sie suchten ihre Modelle lieber unter den Arbeitern, die ein Werkzeug in den Händen hielten, eine Maschine bedienten, eine Last beförderten. Angestellte gerieten ganz selten ins Bild, und wenn dann waren es Mitarbeiterinnen, die an der Schreibmaschine saßen oder an einem anderen Gerät tätig waren. Denn anders als körperliche Verrichtungen ist Kopfarbeit im Bild nicht darstellbar. Heute, nachdem sich die Tätigkeiten von Arbeitern und Angestellten vielfach nicht mehr unterscheiden, finden sich gelegentlich Aufnahmen von Männern und Frauen, die beispielsweise vor einem Monitor sitzen, ohne dass erkenntlich wäre, ob mit dem Computer ein Fertigungsprozess gesteuert oder Buchungen im Rechnungswesen durchgeführt werden. Immer sind es Mensch und Maschine, die gemeinsam auf dem Foto auftreten, wogegen die Umgebung weit gehend ausgeklammert bleibt.
Dem gegenüber zeigen die Hervorbringungen der Fotografen und Fotografinnen, die von Architekten der neu errichteten oder sanierten Gebäudeteile beauftragt worden sind, auch jene Räume, in denen Beamte oder Angestellte ihre Arbeit verrichten. Es handelt sich um Gesamt- oder Teilansichten, aufgenommen meist kurz nach der Fertigstellung, noch leer oder bereits eingerichtet. Vorgeführt wird die Grundausstattung mit Tischen und Stühlen, Aktenschränken und Garderobe, Jalousien und Auslegware. Von den Menschen ist nichts zu sehen, wie auch nicht auszumachen ist, welche spezifischen Aktivitäten in den neuen Büros ausgeübt werden. Auf besondere Weise deuten solche Aufnahmen aber die Kälte der Atmosphäre und die Entfremdung an, die den Arbeitsalltag in vielen Bereichen bestimmen.
Vom Dasein im Büro hat es zwar aus genannten Gründen keine oder nur ganz wenig bildliche Darstellungen gegeben. Doch in dem Maß, als nach den Weltkriegen in den 1920er und 50er Jahren zunehmende Mechanisierung und Zentralisierung die Betriebsstrukturen und Arbeitsvorgänge veränderte, sind schriftliche Befunde entstanden, haben sich Schriftsteller und Reporter, Soziologen und Arbeitsökonomen mit dem Thema beschäftigt.1 Wobei in der Belletristik der 1920er und 30er Jahre Verkäuferinnen und weibliche Büroangestellte die Hauptfiguren abgaben. Zu den bekanntesten Werken im deutschsprachigen Raum zählten die Schicksale hinter Schreibmaschinen von Christa Anna Brück aus dem Jahr 1932 und Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun, das zwei Jahre davor erschienen war.
Der Feuilletonist und vielseitige Autor Siegfried Kracauer hat zwar Essays ebenso zu den Angestellten wie zur Fotografie verfasst, jedoch zwischen beiden nicht mehr als eine metaphorische Verbindung herstellen können: „Die Reportage photographiert das Leben; ein solches Mosaik [aus einzelnen Beobachtungen] wäre sein Bild.“2 Die fehlenden fotografischen Bilder mussten durch die Sprachbilder des Journalisten ersetzt werden.
Hans Wetzelsdorfer fotografiert in den Jahren 2006 und 2007 das Landhaus in Eisenstadt und ergänzt die etwa 3.000 Aufnahmen 2008 um einige wenige Nachträge. Ihn interessiert nicht die Sicht von außen - auf Fassaden und Hofschächte wirft er nicht mehr als kurze Blicke -, sondern gewissermaßen das Innenleben. Dieses findet statt in den Büros, Sitzungssälen, Pausenräumen, Lagerstätten und Abstellkammern, auf dem Flur, in der kellerähnlichen Garage, wo Autos geparkt werden können. Allerdings sind die Menschen, während die Fotos entstehen, nicht zugegen, jedenfalls nicht im Bild. Wohl aber wird der Arbeitsplatz so gezeigt, als wäre er nur kurz verlassen worden: Schränke stehen offen, der Bildschirm des Computers ist eingeschaltet und zeigt eine Auflistung, Aktenbündel lagern auf Schränken oder auf dem Boden, eine Schwingtür pendelt noch aus. Nur im Plenarsaal, wo die Sitzungen des Landtages stattfinden, herrscht penible Ordnung, sind die Arbeitsflächen leer geräumt, stehen die Stühle in Reih und Glied - doch dieser Versammlungsraum wird auch nicht täglich genutzt.
Es sind also die Dinge, mit denen die „Insassen“ des Hauses zu tun haben, sowie die Spuren, die sie hinterlassen haben und die zu uns sprechen. Sie erzählen von den Aufgaben, die man vor sich hat; von den Notizzetteln an der Wand, die an kommende Termine erinnern sollen; von dem Platz, der da und dort fehlt; vom immergleichen Gegenüber, ob man über den Schreibtisch hinweg oder aus dem Fenster schaut. Aber sie erzählen auch von den Bemühungen der Beschäftigten, ihr Ambiente wohnlicher zu gestalten, wenn sie Blattpflanzen am Fensterbrett, auf einem Bord oder auf dem Schränkchen arrangieren, eine Vase mit einer Sonnenblume neben den Schreibtisch stellen, Bilder und private Fotos an den Wänden platzieren, Erinnerungsstücken - ausgestopfte Tierköpfe, ein Skelett, ein überdimensionierter und signierter Fußball - einen besonderen Platz einräumen. Vielleicht vergnügt sich der eine in den freien Stunden bei der Jagd, während der andere mit Sicherheit dann und wann auf dem Fußballplatz zu finden ist.
Wir erfahren etwas von den Vorlieben und den unterschiedlichen Geschmäckern der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Die eine liebt es nüchtern und sachlich, dem anderen erscheint das Durcheinander als Hort des Intimen, wo sich kein anderer zurecht findet. Wetzelsdorfer zeigt nicht, was ihm selbst mehr oder weniger zusagt, er weist darauf hin, was er vorgefunden hat und wie es ist. Wie er auch nicht verrät, wessen Zimmer er besucht hat, welche Funktion der- oder diejenige innehat, auf welcher Stufe der Hierarchie sie oder er steht. Der Fotograf differenziert nicht nach Macht und Einfluss, nach Vorgesetzten und Untergebenen, nach Frauen und Männern. Sondern er gesteht den Menschen im Landhaus zu, dass jede Arbeit gleichermaßen notwendig sei, dass sich Produktivität erst aus dem Zusammenspiele ergebe, und insofern bekleide jeder und jede denselben Rang. Der eine verwendet einen roten Schlüsselanhänger, die andere einen gelben.
Es sind unprätentiöse Fotografien, die wir zu sehen bekommen, zumeist aus Augenhöhe aufgenommen, also aus jener Perspektive, die sich jedem Besucher bei einem Rundgang eröffnen. Selten sind mehr als zwei Wände eines Raumes zu sehen, häufig wird durch geöffnete Türen geblickt, die Flucht eines Ganges verfolgt. Was Hans Wetzelsdorfer für registrierwürdig hält, wird in die Mitte des Bildes gesetzt. Wenn es deren Größe oder Besonderheit erfordert, wird manchen Details ganz nahe gegangen. Gelegentlich verweilt der Blick auf einem vorgefundenen Stillleben, und man meint, den Bildautor lächeln zu sehen und Augen zwinkernd auf die Kuriosität hinzuweisen. Wenn beispielsweise ein Hemd am Kleiderständer hängt und der Betrachter sich fragen muss, ob der Mann ein eigenes Arbeitshemd vor Dienstantritt angezogen hat; oder wenn das Porträtfoto eines früheren Landeshauptmannes am Rollcontainer befestigt ist und eine Ranke der Topfpflanze neben dem Bildnis hängt, als wüchse sie zum höheren Lob des ehemaligen Landesvaters.
Nur ganz selten treten Personen auf: von hinten gesehen einen Gang entlang gehend; unscharf hinter dem Ornamentglas einer Tür; als dunkler Schatten vorbei huschend. Als ob der Fotograf daran erinnern wollte, dass es nicht um die materiellen Dinge, die Einrichtung, die Raumanordnung geht, sondern um die Menschen im Büro, um ihre Arbeit, ihre Leistung, ihr Dasein. Obwohl sie aus den Bildern verbannt sind, werden diese doch von ihnen beherrscht. Sie sind ständig zugegen: die Politiker, die Beamten und Angestellten, die Zeitarbeiter und Hilfskräfte - mit einem Wort: die „Bewohner" des Landhauses.
Dr. h.c. Timm Starl, geb. 1939 in Wien, freier Kulturwissenschaftler, Fotopublizist und Ausstellungskurator, Gründer (1981) und Herausgeber (bis 2000) der Zeitschrift Fotogeschichte, Entwurf (1995) und Fortschreibung einer Datenbank zur Fotografie in Österreich von 1839 bis 1945 (http://fotobiobibliografie.albertina.at/d/fotobibl/einstieg.html), lebt in Wien und im Weinviertel.